_schlüsselerlebnis

Er fühlte sich selig, getragen, im Lot mit der Natur, mit dem Leben. Durch die Schwimmbewegungen spürte er seinen Körper, besonders die obere Rückenmuskulatur.
Ein angenehmes Gefühl. Er schwamm in Richtung einer Insel, aber das Ziel war in diesem Augenblick weniger wichtig. Was zählte, war der Augenblick, genau der Augenblick, in welchem das Ziel, zwar vor seinen Augen klar sichtbar und nah, in der grossen Stille des ihn umgebenden Naturszenarios keine grössere Bedeutung innehatte, als dass es diesen so lebendigen Augenblick als Teil eines wunderbaren Ganzen mit seiner Wenigkeit nährte. Die Insel war ihm schon aus seiner Jugendzeit bekannt, jedoch lag sie, da ausserhalb des Triechters, wie man den engen, überschaubaren Teil des Sempachersees auf Surseer Seite nennt, so weit weg, dass man sich entweder einer sportlichen Schwimm- oder einer Ruderleistung bemühen oder gar ein Motorboot haben musste, um sie zu erreichen. Aber da ihm in seiner Jugendzeit das Gute und Vertraute glücklicherweise noch so nah war, beschränkte sich sein Wirkungskreis auf das Gebiet des Triechters , ja sogar meistens auf die Surseer Badi, die kleine Surseer Badi, welche ihm als Kind so riesig vorkam. Und von dort war sie so weit weg, die Insel.

Jetzt, in diesem Augenblick, bewegten ihn weder die Erinnerung noch das Ziel und auch nicht seine grossen Sorgen. Er drehte sich auf den Rücken und tauchte sein Haupt in das weite Blau des Himmels. Oben und unten, innen und aussen, er fühlte sich – zwischen Himmel und Erde – tief aufgehoben.

Die Wellen wogten und wiegten ihn in Geborgenheit, in Vertrauen.
Sein Blick schweifte zum Pilatus. Der Hausberg seines Heimatortes. Stark und fest zeigte er sich. Nicht als Teil einer Bergkette, nein. Allein. Seit Jahrtausenden. Als Einzelkämpfer in der Region, fast. Die Rigi, seine kleine Schwester, seit jeher an seiner Seite, in kurzer Distanz.
Das Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Er blinzelte. Ein Mal. Zwei Mal. Momentaufnahmen eines stillen Naturereignisses. Einzigartig.

Dem Augenblick, den er gerade am Erleben war und dessen magische Elemente sich unmittelbar und fortwährend in jede einzelne Faser seines Körpers pflanzten, würde noch grosse Bedeutung zukommen. Das wusste er.
Es war eine Kraft, die sich in jeden Lauf der Zeit als Weile der Entspannung, der Meditation integrieren lassen würde.
Als minimale Zeitspanne mit maximaler Wirkung, sozusagen.

Glücklich schwamm er wieder zurück zum Ausgangsort seiner kurzen Reise, nachdem er auf der Insel eine kleine Pause eingelegt hatte.

“Johann, nimmst noch ein Bier?” “Oh ja, sehr gerne!” Er setzte sich mit der Flasche in der Hand an den Tisch und versuchte, sein Erlebnis beim Schwimmen in wenigen Worten wiederzugeben. “Das hat jetzt sehr gut getan”, brachte er knapp hervor. “Unbeschreiblich schön”, hängte er noch an.

Es war wirklich ein sehr schöner Tag, den er mit seinen beiden herzigen Kindern bei Paula und Carl am See verbringen durfte. Gerade in dieser schweren Zeit tat es ihm gut, wenn er sich mit Freunden austauschen konnte, die ihn gut kannten, von früher, mit all seinen Stärken und Schwächen. Und auch die beiden Kinder fühlten sich immer wohl. Klar. Viel Raum zum Spielen, ein Trampolin, ein Schlauch zum Herumspritzen, ein Tischtennistisch, Surfbretter und viele andere Kinder. Paula meinte, dass das Haus am See schon immer ein Ort der Begegnung war. Beide Familien mit ihren Familien, Freunde der Familien, Freunde der Kinder, Freunde von Freunden. Wer immer dorthin gelangte, kam in den Genuss einer Gastfreundschaft der besonderen Art.
Moritz und Emma waren so müde, dass sie im Auto sofort einschliefen. Es war eine ruhige Heimfahrt von Sursee nach Zürich. Zuhause angekommen, legte Johann die beiden Kinder ins Bett, deckte sie zu und drückte ihnen sanft einen Gutenachtkuss auf die zarte Wange.
Darauf hängte er die nassen Badesachen auf den Balkon und liess sich erschöpft in den “Umarmi”-Sessel in der Stube fallen. Der Name des Sessels rührte daher, dass Johann oft mit Moritz darin sass oder lag und weil es nicht gerade viel Platz hatte, lagen sie aufeinander, sich umarmend und sagten sich, wie lieb sie sich hatten, zumindest Johann zu Moritz.
Nun sass Johann alleine drin und umarmte dankbar den heutigen Tag mit all seinen Geschenken. Er dachte daran, dass er vor Jahren mal ein Gedicht verfasst hatte, welches ihn in irgendeiner Form an das heutige Erlebnis auf dem See erinnerte. Der Gedanke liess ihn nicht los. Er rief über sein Iphone im Internet seine Webseite auf und klickte auf die Seite mit dem Gedicht.

Reiner Gedanke

Wie auf ruhiger See ein Boot,
zeichnet sich ins Bild der Welt,
mit dem Meeresgrund im Lot
und weissem Segel, still, der Held.

Verschwindend klein am Horizont,
öffnet er der Sinne Raum,
zeitlos kurz erwärmt und sonnt
er sich im Tagestraum.

Im Lot, ja, so fühlte er sich heute auch. Und hoffentlich, dachte er, möge er immer und immer wieder Augenblicke erleben, in denen er sein eigener Held ist und Vertrauen gewinnt . Dann putzte er die Zähne, zog sich aus und legte sich ins Bett. Er verharrte nochmal kurz in seinem Glück, bevor er sich zur Seite drehte und einschlief.

Fritz Bossardt
2015

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